DER KREIS SCHLIEßT SICH IN MIR UND NICHT IN DER EXTREME

Liege im Nachtzug von Kota nach Mumbai, von wo mein Flieger nach meinen letzten beiden Tagen Richtung Heimat abheben wird. Er schaukelt mich unsanft in den Wachschlaf. Bin körperlich angeschlagen und aufgeheizt, kühle mich im Wind der Klimaanlage. Langsam geht es mir wieder besser. Denke zurück an die vergangenen Tage in Jodhpur,
Udaipur und Bundi. Drifte jedoch in meinen Gedanken ab und habe plötzlich den Hoteljungen vor meinen Augen, wie er mich lächelnd und voller Aufregung fragt, wie ich denn Indien finde.
Dieses Land ist so schwer in einfachen Sätzen und mit dem Geist zu fassen. Es hat mich verschluckt, aber auch unweigerlich wieder ausgespuckt. Indiens Kontraste sind so vielseitig, die Bräuche und Spiritualität so mannigfaltig. Ein Kastensystem, das es eigentlich nicht gibt und doch das Denken und Handeln mitbestimmt. Die gesellschaftlichen Schranken und monetären Kluften sind sichtbar. Habe das Gefühl, dass dieses Land noch seinen Weg gehen muss. Vielleicht bringt die historische Parlamentswahl weitere Verbesserung, einen Wandel. Die regierende Kongresspartei könnte durch die indische Volkspartei (BJP) mit ihrem Hindu-Nationalisten Narendra Modi abgelöst werden. In Mumbai angekommen werde ich sicher Zeitzeuge werden und die Freude oder Frust der Leute erleben.
An vielen meiner letzten Tage komme ich mir vor wie ein Voyeur, weniger wie ein Tourist in diesem Land. Frage mich dann, ob Indien noch mein Motiv ist. Oder ich das Motiv bin. Scham lässt mich das Fotografieren vergessen. Sehe zu, wie das kleine Mädchen an der Kreuzung den Kaugummi von der dreckigen Straße aufkratzt und ihn in den Mund steckt. Sehe zu, wie ein indisches Paar mit seinen über 1000 Gästen eine prunkvolle Hochzeit auf der Straße in schillernden Wägen mit heiligen Motiven feiert. Sehe zu, wie der alte gläubige Inder im Gewand seine Wasserflasche am öffentlich Wasserspender auffüllt. Sehe zu, wie der junge Inder seine Frau im wunderschönen rotem Sari auf dem
Rücksitz seines Moped mit einem Kleinkind auf dem Arm über die Schnellstraße fährt.
Es bleiben Momente und Bilder in meinem Geist. Mein Bart und meine Körperfärbung sowie mein Untergewicht werden verschwinden, doch im Innern bleibe ich gezeichnet. Durch all das bin ich aber auch ein Stück mehr bei dir angekommen, wo für mich mein Zuhause ist. Und so reise ich zufrieden und glücklich. Ich bin dankbar für die Zeit mit mir. Mein Kreis schließt sich in mir. Am Ende des Weges erkenne ich, warum ich ihn gehen musste.

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